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Der Beruf des Kapitalismuskritikers

Veröffentlicht am 03.07.2016

Ein Theaterkritiker liebt das Theater, ein Filmkritiker geht gerne ins Kino und die Wohnung eines Literaturkritikers ist mit Büchern vollgestopft. Welches Verhältnis hat aber der allerorten reüssierende „Kapitalismuskritiker“ zum Gegenstand seiner Obsession? Zunächst einmal ist der „Kapitalismuskritiker“ die Gattungsbezeichnung für oft eloquente und meist gutbezahlte, letztlich aber unschädliche Medienakrobaten, die in Talkshows und Podiumsdiskussionen den teils heiteren, teils verbiesterten Hofnarren geben...

Ein Theaterkritiker liebt das Theater, ein Filmkritiker geht gerne ins Kino und die Wohnung eines Literaturkritikers ist mit Büchern vollgestopft. Welches Verhältnis hat aber der allerorten reüssierende „Kapitalismuskritiker“ zum Gegenstand seiner Obsession? Zunächst einmal ist der „Kapitalismuskritiker“ die Gattungsbezeichnung für oft eloquente und meist gutbezahlte, letztlich aber unschädliche Medienakrobaten, die in Talkshows und Podiumsdiskussionen den teils heiteren, teils verbiesterten Hofnarren geben.

Oft ist der „Kapitalismuskritiker“ Professor, gelegentlich vom ökonomischen Fach, manchmal aber auch der Herkunft nach Sozialpsychologe, Theaterwissenschaftler oder Architekturhistoriker. In der Regel weiß der habilitierte „Kapitalismuskritiker“ davon zu berichten, dass er der vollkommenen Kommerzialisierung des akademischen Betriebs entfliehen musste, um, bescheiden von den kargen Einkommen aus seinen Bestsellern und Vorträgen lebend, aus angemessener Distanz von seinem toskanischen Landsitz aus unser Wirtschaftssystem und seine Entartungen ins Visier zu nehmen.

Ist der „Kapitalismuskritiker“ nicht Professor, so ist er Schauspieler, Musiker, Ökowinzer oder Nachrichtenmoderator. Ist der „Kapitalismuskritiker“ eine „Kapitalismuskritikerin“, ist sie entweder Bischöfin oder Fernsehköchin.

Seine Beliebtheit verdankt sich der „Kapitalismuskritiker“ der von jedermann und insbesondere von ihm selbst erkannten absoluten Folgelosigkeit der von ihm verkündeten Binsenwahrheiten. Denn, Hand auf’s Herz, wissen wir doch alle längst, dass wir auf Kosten der Armen dieser Welt und der folgenden Generationen es uns noch einmal richtig gut gehen lassen, und so kann uns der „Kapitalismuskritiker“ auch gar nicht mit seinem erhobenen Zeigefinger irritieren, sondern es erfreut unser Gemüt, dass in unserem Wirtschaftssystem jemand auch ohne Arbeit und geistige Leistung sein Auskommen und sogar Ansehen als moralische Instanz findet. Der „Kapitalismuskritiker“ ist des Kapitalismus‘ niedlichster Parasit.

Konkrete Lösungsvorschläge für aktuelle Sachprobleme bleibt der „Kapitalismuskritiker“ mangels Fach- und Detailkenntnissen schuldig, sondern sichert sich lieber mit einem ebenso unbestimmten wie apodiktischen „So kann es doch nicht weitergehen!“ breite Zustimmung. Auch utopische Zukunftsentwürfe in globaler Perspektive sind nicht sein Ding, würden ihm doch vom Kontrahenten in den Talkshows der Republik die eilig vorgebrachten Finanzierungsvorbehalte den Applaus verhageln.

Natürlich hat der Kapitalismus schärfste Kritik verdient, aber aus der Analyse muss die Tat werden, müssen Handlungsstrategien entwickelt werden, die klare alternative Perspektiven und ihre Durchsetzbarkeit aufzeigen. Dies muss in gesamtgesellschaftlicher, globaler und zeitlicher Dimension geschehen. Wie zum Beispiel sind demokratische Mehrheiten für wirksame Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe zu organisieren, wenn diese sich nicht im Aufkleben von Umweltplaketten ans Auto oder dem fröhlichen Organisieren von Tauschringen erschöpfen, sondern nur in drastischen Konsumeinschnitten bestehen? Wie kann man die ALDI-Kassiererin dazu bringen, ihr Kreuzchen bei der nächsten Wahl bei einer Partei zu machen, die ihr das kleine, schwer verdiente Auto wegnehmen will, damit in Bangladesch nicht der Meeresspiegel steigt?

Schwierig zu beantworten, diese Frage. Darum stellt der „Kapitalismuskritiker“ sie erst gar nicht. Und sie wird ihm auch nicht gestellt, denn ratlose Talkshowgäste drücken die Einschaltquote.  

 

 

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